Editorial

Aus der Agitationszeitung Wir Wollen Alles, die seit Anfang 1973 von den operaistisch orientierten Gruppen Arbeitersache / München, Revolutionärer Kampf / Frankfurt und Proletarische Front / Hamburg herausgegeben wurde, ging im Jahr 1975 die Zeitschrift AUTONOMIE hervor. In der Redaktion entwickelten sich bald zwei Linien. Auf der einen Seite gab es den Frankfurter Weg einer Politik in erster Person, auf der anderen Seite beharrte vor allem die Hamburger Gruppe auf einem Arbeiterstandpunkt: der Bezug zur Subjektivität der „Klasse“ und der Aufbau einer sozialrevolutionären Organisation sollten gegenüber Ich-bezogenen Politiken Vorrang haben. Die Frankfurter stellten die alte Folge mit dem Heft 14/1979 ein, die Hamburger brachten in den Jahren 1979 – 1985 die hier digital vorliegende AUTONOMIE N.F. heraus. Schon das Heft 12/1978 der alten AUTONOMIE wurde in Hamburg konzipiert und wird deshalb in diese digitalisierte Edition aufgenommen. Es war dem Thema Regionalismus gewidmet, daneben stand ein Text zur Moralischen Ökonomie, der die Sozialgeschichtsschreibung der englischen New Left aufgriff.

In der Hamburger Redaktion fand sich personell ein Stamm aus der ehemaligen Proletarischen Front zusammen, erweitert um einige Personen, die im Zusammenhang mit einer Kampagne für die Haftverschonung des Redaktionsmitglieds Karl Heinz Roth hinzukamen.1 Roth erfüllte in den ersten Jahren in der Redaktion eine wichtige, integrative Rolle. Für die einzelnen Hefte bildeten sich Teilredaktionen, in denen regelmäßig auch externe Autorinnen und Autoren mitwirkten. Alle Artikel wurden regelmäßig in der Kernredaktion diskutiert, die von einem bezahlten, geschäftsführenden Redakteur unterstützt wurde und die in Hamburg-Altona ein Redaktionsbüro unterhielt. 1982, im Zusammenhang mit dem in Heft 10 abgedruckten „Thesenpapier“, schieden mehrere Mitglieder aus der Redaktion aus.

Abgesehen vom Heft 1 der NEUEN FOLGE wurde die Zeitschrift im Selbstverlag produziert und durch Spenden der Redaktionsmitglieder finanziert. Die Auflage betrug drei, bei einigen Heften vier Tausend. Der Stamm der Leserinnen und Leser kam überwiegend aus den Protestbewegungen der 1970er Jahre, hauptsächlich in Norddeutschland, aber auch rund um einige süddeutsche Universitätsstädte und in Berlin. Vereinzelt entstanden Lesekreise, und die Redaktion führte eine Reihe heftzentrierter Veranstaltungen durch, so im Kontext der Gefangenenbewegung und der Anti-Atom-Bewegung.

Ziel der AUTONOMIE N.F. war zum einen, einen erweiterten Begriff von struktureller Gewalt zu entwickeln, welcher der Einwebung von technologischer Gewalt in die kapitalistisch bestimmten Alltagsverhältnisse entsprach. Zu anderen sollte ein neues, sozialrevolutionäres Verständnis von Internationalismus und Antiimperialismus erarbeitet werden. Dahinter stand als politisches Konzept, die verschiedenen Teilbewegungen im Gefolge der „antiautoritären“ 68er-Revolte, die zumeist punktuell und situativ agierten, in einem größeren historischen Kontext zu verorten und strategisch zu verlängern.

Die NEUE FOLGE begann im Mai 1979 mit einem Heft 1 über die Iranische Revolution, welches mit Blick auf die Volksmodjahedin und den Theoretiker Ali Schariati versuchte, die „Iranische Massenautonomie“ in ihrem Potential auszuloten – als nicht-bolschewistischen Weg der sozialen Revolution. Das Thema wurde in Heft 6 (über den Krieg Iran-Irak, 1980) und Heft 8 (über die Volksmodjahedin, 1981) wieder aufgenommen. Bekanntlich endete die Iranische Revolution in einer Gegenrevolution der reaktionären Ayatollahs, in Bürgerkrieg und Terror. Dass die Iranische Revolution womöglich nur der erste Abschnitt einer revolutionären Epoche war, die bis in die Arabellion führen würde, konnte die Redaktion damals nicht ahnen, und das Interesse am „Mittleren und Nahen Osten“ erlosch.

Das Thema eines sozialrevolutionär orientierten Antiimperialismus verlängerte sich in das Heft 10 der NEUEN FOLGE (Antiimperialismus in den 80er Jahren, 1982), in dem Hinweise aus der US-amerikanischen operaistischen Linken weiterentwickelt und der klassischen Imperialismustheorie ein Primat des Sozialen gegenübergestellt wurden, sowie in den Text „Völkermord gegen soziale Revolution“ im letzten Heft 14/1985. Einen Rückbezug dieses Ansatzes auf die Russische Revolution, der eigentlich immer anstand, gab es erst viele Jahre später.2

Hinter den themenorientierten Heften 2 bis 7 stand der Versuch, mit den monothematisch orientierten Strömungen und Bewegungen in einen Austausch zu treten und „Pflöcke einzuschlagen“ für die Rekonstruktion einer übergreifenden sozialrevolutionären Agenda. Der „Arbeiterstandpunkt“ wurde auf ein neues soziales Subjekt projiziert, die „Fabrikgesellschaft“ wurde zum Erklärungsmodell für das gesamte soziale Terrain. Den Anfang machte das Gefängnisheft (Heft 2, Die neuen Gefängnisse, 1979), in dem Materialien zur Gefangenenbewegung und zur jüngsten Entwicklung der Einsperrungssysteme vorgelegt wurden. Ein Sonderheft aus dem Jahr 1980 über die Sicherungsverwahrung ergänzte diese Thematik. Es folgten das Thema Städtebau in Heft 3 (Die zweite Zerstörung Deutschlands, 1980), das einen Bogen schlug von den Architekturutopien des 19. Jahrhunderts bis zu den damals aktuellen Hausbesetzungen, und das AKW-Heft Heft 4/5 (AKW-Widerstand. Atomstaat, 1980), das neben dem Bezug auf die AKW-Bewegung eine Auseinandersetzung mit dem Institutionalisierungsprozess bei den Grünen enthielt. Auch die medizinorientierten Hefte, das Sonderheft 2 (Medizin und Nationalsozialismus, 1980) und Heft 7 (Gesundheitsreform, Vergewaltigung, Zwangssterilisierung, Krankschreiben, 1981) sollten in die Debatten der „Gesundheitsbewegung“ im Kontext der „Gesundheitstage“ in Berlin und Hamburg historisches und aktuelles Material einbringen. Dies Thema wurde später in der Zeitschrift „Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik“ wieder aufgenommen.

Erst mit dem Fiat-Heft (Heft 9, Fabrik und neue Klassenzusammensetzung, 1982) wurde in der NEUEN FOLGE angeknüpft an den Ausgangspunkt der 1970er Jahre, wie er im Untertitel Materialien gegen die Fabrikgesellschaft zum Ausdruck kam. Die Gruppe Arbeitersache hatte sich mit einer anti-tayloristischen und anti-fordistischen Programmatik auf die Arbeiter bei BMW bezogen, die Gruppe Revolutionärer Kampf auf die Opelarbeiter, die Gruppe Proletarische Front auf Hafen und Werften und die VW-Arbeiter in Hannover. Die Erfahrungen aus diesem Kampfzyklus, deren Höhepunkt der Fordstreik 1973 gewesen war, sollten wachgerufen werden, um zu einer neuen Auseinandersetzung mit der Klassenrealität in Westdeutschland, der Ausbeutung der Arbeit und den regionalen Arbeitsmärkten zu gelangen. Allerdings ist es zu einem solchen systematischen Zugang nicht gekommen.

Stattdessen wurde das Thema Italien in einem separaten Heft noch einmal aufgenommen (Heft 12, Modell Italien. Revolutionäre Bewegungen am Ende? 1983), während die Themen Arbeitsmärkte und Technologie in den Heften 11 und 13 unter dem gemeinsamen Obertitel Imperialismus in den Metropolen mit einem verschobenen Blickwinkel bearbeitet wurden (Heft 11, Zwang zur Arbeit. Neue Armut, 1982, und Heft 13, Der technologische Angriff, 1983). Parallel zu den quasi post-operaistischen Bezügen auf die metropolitane Klasse und auf die weltweite Massenarmut hatte sich seit dem Heft 3 eine Debatte über Subjektivität und technologische Gewalt entwickelt, die in verschiedene Hefte Eingang fand. Bezugspunkt hierfür war das 1981 erschienene Buch Leben als Sabotage.3

Seit 1982 kam es in der Redaktion zu schwierigen Auseinandersetzungen. Die Hefte 13 und 14 wurden nur noch von informell fortbestehenden Teilredaktionen herausgegeben. Einige Mitglieder der Redaktion glaubten nicht mehr, dass es möglich sein würde, sozialrevolutionäre Prozesse in der Metropole von einem metropolitanen Klassenstandpunkt her zu rekonstruieren und bezogen sich stärker auf das sozialhistorische Paradigma der Massenarmut und auf globale anti-imperialistische Kämpfe. Das implizierte unterschiedliche Vorstellungen von Organisation. Die divergenten Ausgangspunkte führten nicht mehr zu einer fruchtbaren Auseinandersetzung, sondern zur Auflösung der Redaktion. Das letzte Heft (Heft 14, Klassengeschichte – soziale Revolution?), das 1985 nach zweijähriger Pause in veränderter Aufmachung erschien, enthielt drei separat stehende Aufsätze: eine historische Studie über Massenarmut und Existenzrecht, einen Beitrag zur Reproduktionsarbeit (nachholend, denn eine feministische Position hatte sich in der Redaktion nicht durchsetzen können) und eine Darstellung des Bretton-Woods-Systems als Waffe gegen die soziale Revolution.

  1. vgl. Ein ganz gewöhnlicher Mordprozess, Berlin 1978
  2. https://materialien.org/das-ende-des-sowjetischen-entwicklungsmodells/
  3. Detlef Hartmann, Leben als Sabotage. Zur Krise der technologischen Gewalt, Tübingen 1981